Ein Modellprojekt

Medikamentenabhängigkeit ist ein weitverbreitetes Problem, das häufig im Verborgenen stattfindet. Deutschlandweit gehen Experten von ca. 1,8 bis 2 Millionen tablettenabhängigen Menschen aus.

Dr. Ernst Pallenbach, promovierter Apotheker und Vorsitzender des Arbeitskreises Sucht sowie Beauftragter für Suchtprävention der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg gilt als Experte auf diesem Gebiet. Er hat zahlreiche Artikel und Bücher zum Thema veröffentlicht und mit der Förderung des Bundesministeriums für Gesundheit ein zukunftsweisendes Modellprojekt zur ambulanten Reduktion der Medikamentenabhängigkeit ins Leben gerufen. Seine Erfahrungen aus diesem Projekt gibt er auch heute noch als Gastdozent an pharmazeutische Studenten der Universität Freiburg weiter.

Was hat Sie veranlasst, dieses Modellprojekt zu initiieren?

Suchterkrankungen haben mich schon lange bewegt. Das Thema ist sehr komplex und beinhaltet pharmakologische, medizinische, soziale und psychologische Facetten. Nach und nach habe ich mich im Rahmen meiner Doktorarbeit, in Schulungen und in Vorträgen immer mehr in das Thema eingearbeitet. Im Besonderen hat es mich interessiert, wie wir als Apotheker in unserer täglichen Arbeit mit den Kunden zu einer Konsumreduktion beitragen können. Mein Wunsch war es, die Motivation der Betroffenen unter Kooperation mit dem Hausarzt zu wecken und eine positive Veränderung herbei zu führen. Nach ersten Gesprächen mit Ärzten und Apothekern kam der Stein dann ins Rollen.

Wie gestalteten sich die Rahmenbedingungen des Projektes?

Der größte Teil der betroffenen Menschen konsumieren Benzodiazepine und Z-Substanzen. Auf den übermäßigen Konsum dieser Schlaf- und Beruhigungsmittel habe ich das Projekt ausgerichtet. Das Besondere dabei war, dass der Apotheker in Kooperation mit dem Hausarzt, als Berater agiert und dem Patienten hilft, den Konsum stufenweise über einen Zeitraum von meist mehreren Monaten ambulant zu reduzieren. Finanziert würde das 2009 gestartete Projekt vom Bundesministerium für Gesundheit. Träger war die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V. mit Sitz in Berlin. Über einen Förderzeitraum von 3,5 Jahren beteiligten sich Apotheker aus 101 Apotheken am Modellprojekt. Insgesamt wurden 102 Patienten an das Modellprojekt angeschlossen: 73 Frauen und 29 Männer. Durchschnittlich waren die Patienten etwas über 71 Jahre alt.

Wie war das Beratungsangebot aufgebaut?

Zu Beginn schulte ich interessierte Apotheker und auch Ärzte in kleinen Gruppen. Die Schulungen dauerten in der Regel zwei bis zweieinhalb Stunden. Dabei wurden die Ziele des Projektes, der vorgesehene Ablauf sowie die korrekte Handhabung der Dokumentationsunterlagen erläutert. Im ersten Schritt mussten die Apotheker ihre Klienten und deren Ärzte für die Teilnahme motivieren. Denn über eine mögliche Dosisreduktion entscheidet immer der Arzt. Dazu informierten wir die Ärzte aus dem Umkreis der Apotheke. Die Entscheidung, welche Ärzte angesprochen werden sollten, lag im Ermessen der Apotheker.

Patienten, die unsere Einschlusskriterien erfüllten und bei denen der Arzt die Teilnahme befürwortete, konnten in einer der teilnehmenden Apotheken einen Termin für ein ausführliches Informations- und Beratungsgespräch vereinbaren. Dabei erläuterte der Apotheker zunächst die positiven Wirkungen des Benzodiazepins. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass dieses Präparat ebenfalls unerwünschte Nebenwirkungen haben könne. Im Besonderen, wenn es über längere Zeit angewendet wird. Begriffe wie Abhängigkeit und Entzug haben eine negative Konnotation und wurden bewusst mit Begriffen wie Gewöhnung und Abdosierung ersetzt. Ziel war es, bei dem Patienten ein Bewusstsein für die Risiken der Langzeitanwendung zu schaffen, ohne die bisherige Therapie ins schlechte Licht zu rücken.

Bei den Verlaufsbesprechungen vergewisserte sich der Apotheker in Absprache mit dem Arzt, ob der Patient noch im richtigen Abdosierungsschema lag und ob Probleme auftraten. Selbstverständlich stand der Apotheker dem Patienten auch kurzfristig in der Apotheke als Ansprechpartner zur Verfügung.

Zum Abschluss der Intervention führten sowohl der Apotheker als auch der Arzt ein Gespräch mit dem Patienten. Dabei verbalisierten sie, wie sich der Gesundheitszustand des Patienten verändert hatte.

Was waren die Ergebnisse des Projektes?

Drei Viertel der angeschlossenen Patienten profitierten von der Intervention. Der größte Teil konnte das Schlafmittel sogar komplett absetzen. 80 Prozent der Patienten, die ihr Benzodiazepin im Rahmen der Intervention vollständig absetzen konnten, gaben bei der Nachbefragung nach drei Monaten an, seither keine Benzodiazepine konsumiert zu haben. Von denjenigen, die die Dosis reduziert hatten, gaben fast drei Viertel an, die Dosis nicht wieder gesteigert zu haben, 20 Prozent hatten sie sogar weiter reduziert. Die Patienten beurteilten ihren Zustand bei vollständiger Abdosierung und auch bei der Reduktion über einen längeren Zeitraum, als deutlich verbessert.

Das im Modellprojekt praktizierte stufenweise Vorgehen erwies sich ebenfalls als sehr sicher: Fast 83 Prozent der Ärzte stellten bei ihren Patienten im Verlauf der Intervention keine oder allenfalls leichte Entzugssymptome fest. Keiner beschrieb sehr schwere Entzugssymptome. Zwei Drittel schätzten das psychische Empfinden der Patienten nach Abschluss als gut oder sehr gut ein. Die teilnehmenden Ärzte beurteilten die Schulungen und die Zusammenarbeit mit den Apothekern als produktiv und als sinnvoll ein.

Hier finden Sie weitere Informationen zu diesem Projekt!

Weitere Informationen zum Buch „Die stille Sucht“ von Dr. Ernst Pallenbach finden Sie hier!